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Photo: Renk-Mustafa KOÇAK
Karaman'in Sesi archive
Dila-Duru GÜNASLAN 2017
Karamanoğlu Mehmet Bey, Karaman und Türkisch
In meiner Heimatstadt in Karaman in Anatolien kam ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule in einem kleinen öffentlichen Park an einer Büste vorbei. Ursprünglich handelte es sich um eine altmodische Bronzebüste, die später an anderer Stelle durch eine faserverstärkte Plastikstatue ersetzt wurde. Beide repräsentierten eine lokale historische Figur: Karamanoğlu Mehmet Bey, der zweite Herrscher der Feudalprovinz Beylik von Karamanoğlu. Auf dem Sockel dieser Büste - und auch als Teil der figürlichen Komposition der Statue - befand sich eine Inschrift mit seiner berühmten Proklamation vom 13. Mai 1277: “Im Derwischkonvent, im Konzil, im Palast, im Parlament und an öffentlichen Orten ist von nun an keine andere Sprache als Türkisch zulässig.”(1)
Da der Text nur auf Türkisch war, machte ich mir Gedanken über diejenigen, die kein Türkisch können. Ich hinterfragte die merkwürdige Logik des Textes: Wenn man kein Türkisch spricht und wenn es hier nicht erlaubt ist, eine andere Sprache als Türkisch zu sprechen, wie kann man diese Mitteilung auf Türkisch dann verstehen?
Als ich Lesen lernte, stieß ich wieder auf diese Inschrift. Ihre Bedeutung hatte sich mit der Zeit verändert und forderte die Art und Weise heraus, wie ich Öffentlichkeit, Sprache, Staat und Identität verstand. Als Kind fand ich es spannend, wenn andere Leute um mich herum andere Sprachen gesprochen haben. Ich erinnere mich an meine Großmutter und ein Bild von Ali (Ali ibn Abi Talib, der erste Imam nach Muhammad) in ihrem Haus, das neben dem Spiegel hing. Und an die goldene Regel von Ali: "Hasse nicht, was du nicht weißt, denn der größte Teil des Wissens besteht aus dem, was du nicht weißt."(2)
Wie ware man für das Übertreten dieser Regel bestraft worden? Auch andere Dinge rund um diese Frage zogen meine Aufmerksamkeit auf sich ... Für mich war dieser Park ein perfektes Beispiel für eine konzeptionelle Bühne, die weder einen Schauspieler noch einen Regisseur erfordert. Es war eine Installation, die sich kontinuierlich in der alltäglichen Realität abspielte. Es war eine imaginative Bühne, die ich entdeckt hatte, und die sich jeden Morgen mit einer anderen Geschichte fiktionalisierte. Die Stille im Park reichte aus, um über Situationen zu fantasieren, die den Kontext der Proklamation irgendwie infrage stellen würden. Manchmal stellte ich mir Leute im Park vor, die andere Sprachen sprechen. Obwohl dies nun vielleicht so aussehen könnte wie die Bilder mit der Erde im Zentrum und Kindern, die sich an den Händen halten, die die ganze Klasse in unserer Grundschule anı 23. April, dem Nationalen Kindertag, gemalt hat, oder wie eine Benetton-kampagne aus den 1990ern, war es damals mehr als nur eine Kindheitsfantasie. Es war die instinktive, natürliche Reaktion eines Kindes, eines reinen Geistes, auf die politische Atmosphäre der Türkei in den 1980er Jahren. Allein in diesem Park vor dieser Büste Zeit zu verbringen, ließ mich verstehen, wo ich lebte, was hier geschah, was vor sich ging ...
Im Jahr 1928 wurde auf persönliche Anordnung Mustafa Kemal Atatürks das 29-buchstabige lateinische Alphabet für die türkische Sprache eingeführt. Atatürk ging damit eines der größten Risiken in der öffentlichen Bildung ein. Über Nacht nahm die Zahl der Lese- und Schreibkundigen im Land drastisch ab. Jedoch brachten die Alphabethisierungsmaßnahmen das Lesen und Schreiben der türkischen Sprache in nur wenigen Jahren wieder auf den alten Stand. Meine Großmutter konnte das lateinische Alphabet weder lesen noch schreiben. Dahingegen war ich sehr viel später mit der Tatsache konfrontiert, dass ich viele Ressourcen aus dem Bestand unserer öffentlichen Bibliotheken und Archive nicht lesen und recherchieren konnte. Das war nicht der einzige Fall.
Mit Bezug auf einige Motive aus dem Roman Mutterzunge von Özdamar wird dieses Forschungsprojekt u. a. diese Büste aus meiner Kindheit wieder aufleben lassen. Anekdoten, Erinnerungen und Geschichten von unseren Teilnehmern folgen in weiteren Ausgaben.
1. Findley, Carter Vaughn: The Turks in World History. Oxford University Press, 2005, S. 74-75. 2. https://www.al-islam.org/nahjul-balaghapart-l-serm ons